Susannes Blog

Dazuge-Hören?

Ich lese gerade im Buch Schwerhörigkeit – Trauma und Coping von Wolfgang Wirth (S. 162). Dabei finde ich folgende Zeilen:

Da Schwerhörige immer wieder am Wendepunkt zwischen sozialer Zugehörigkeit bei vorgetäuschter sozialer Anpassung, der Verstecktaktik einerseits, und dem Bedürfnis funktionierender Kommunikation andererseits stehen, stellt sich die Frage, welches Bedürfnis wichtiger ist, welche Macht die stärkere ist. Diese äußerst paradoxe Position bedeutet, dass der Schwerhörige wenn er normal erscheint bzw. normal erscheinen will, nicht nachfragt und zu verstehen vortäuscht. Er wird auf der Verhaltensoberfläche soziale Zugehörigkeit erhalten, aber die der Tiefe des Verstehens geschuldete soziale Zugehörigkeit verlieren. In dem Moment, in dem er sich allerdings outet und seine Schwerhörigkeit zeigt und dadurch in kommunikative Teilhabe tritt, verliert er möglicherweise die äußere soziale Zugehörigkeit, wird zum Behinderten, zum Anderen, zum Fremden. Unter günstigen Bedingungen kann er dabei allerdings auf der tieferen Ebene der Bedeutung und des Verstehens Zugehörigkeit und Verbindung mit seinen Interaktionspartnern erfahren.

Es lässt sich jedoch fragen, ob nicht das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit eine stärkere Kraft ist als das Bedürfnis nach gelingender sprachlicher Kommunikation. Dies würde die Verstecktaktik und den Unwillen vieler Schwerhöriger, sich mit der eigenen Schwerhörigkeit auseinanderzusetzen, erklären.

Diese Zeilen beschäftigen mich. Ehrlich gesagt musste ich sie auch mehrmals lesen, bis ich den Eindruck gewonnen habe, sie in ihrer Ganzheit zu verstehen. Ich fasse mal zusammen, wie ich den Text verstehe:

Die soziale Zugehörigkeit, wenn sich Schwerhörige verstecken, indem sie so tun als ob sie verstehen, ist lediglich eine oberflächliche soziale Zugehörigkeit, denn eine tiefere Zugehörigkeit entsteht erst durch das Verstehen des Gesagten. Dem möchte ich noch hinzufügen, dass wenn man sich versteckt auch nicht gesehen werden kann und somit eine Basis für tiefere Zugehörigkeit ebenso fehlt. In dem Moment, in dem sich Schwerhörige outen, (dabei ihre Kommunikationsbedürfnisse mitunter auch klar deklarieren, indem z.B gefragt wird, ob das Gesprochene wiederholt werden kann, weil es aufgrund der Schwerhörigkeit nicht verstanden wurde) und somit das Gesagte auch Verstehen (können) läuft er oder sie in Gefahr die äußere soziale Zugehörigkeit zu verlieren (oder erst recht nicht zu erlangen). Das passiert, wenn der oder die Schwerhörige „zum Behinderten, zum Anderen, zum Fremden“abgestempelt wird. Nur unter – nicht näher definierten – günstigen Bedingungen ist eine tiefere soziale Zugehörigkeit möglich.

Bislang habe ich mich eigentlich immer recht sicher gefühlt, wenn ich mich geoutet habe. Ich hatte nicht das Gefühl, u.a. zur „Fremden“ abgestempelt zu werden. Zum einen waren es z.T. mir vertraute Personen, die meine Ohren-Geschichte von Anfang an kennen. Zum anderen fühlte ich mich meist recht sicher mit meiner Behinderung. Ich kann – wenn ich mich oute – dabei mitunter auch lächeln, souverän auftreten, dazu stehen. Bislang ging ich davon aus, dass mein Outing keine negativen Auswirkungen haben kann. Keine? Naja ein wenig Unsicherheit hat sich da schon immer auch in mir erhoben. Z.B. wenn ich las, dass andere Menschen auf Schwerhörige u.a. mit Unsicherheit, Distanz und Kommunikationsvermeidung reagieren. Insofern versuche ich auch daran zu denken, dass ich mich nicht nur oute sondern auch klar meine Bedürfnisse dazu sage und somit auch wiederum Sicherheit gebe. Ich habe damit die Situation sicher im Griff.

Allerdings alle Situationen habe ich auch nicht im Griff. Und so erheben sich ein wenig Zweifel und auch Fragen in mir.

Ich frage mich beispielsweise, wie es einer Kollegin und Freundin von mir geht, wenn ich so schlecht höre, wie letzte Woche und sie beim Treffen Vieles, wirklich Vieles, wiederholen musste. Das ist anstrengend für mein Gegenüber! Manche Hörsituationen lassen sich einfach kaum besser gestalten. Glücklicherweise bin ich eine Frohnatur und so werden auch anstrengende Situationen mitunter entschärft.

Umso länger ich darüber nachdenke komme ich zum Schluss, dass vor allem im privaten Kontext alle Menschen mit denen ich in einer – um das obige Wort zu gebrauchen – tieferen Beziehung stehe, sich immer wieder Wege finden werden, um Kommunikationssituationen so zu gestalten, dass sie für alle Beteiligten gut sind. In diesen Beziehungen muss, will und brauche ich mich nicht verstecken, um das Gefühl zu haben dazuzugehören. Da wäre jedes Verstecken nur eine Scheinzugehörigkeit. Es sind vielmehr eigene wahrgenommene Grenzen, die das Gefühl auslösen, dass ich nicht dazuge-höre bzw. nicht mehr bedingungslos teilhaben kann. Dies trifft z.B. zu wenn mehrere Personen am Tisch sitzen und durcheinander sprechen.

Weniger Sicherheit und auch Gelassenheit verspüre ich im dienstlichen Kontext. Allerdings sehe ich – mit Ausnahme des geplanten Vortrags Ende März vor allen KollegInnen meiner Dienststelle – hier weniger das Bedürfnis und die Erfordernis mich zu outen. Ich denke ich werde ausreichend kreativ und eloquent sein, um das Outing zu umgehen und trotzdem ausreichend zu verstehen. Die Bezeichnung ausreichend bringt mich dabei zum Schmunzeln. Meine sonst eher hohen Ansprüche sind hier bereits geringer.

Soviel zu meinen heutigen Gedanken zur sozialen Zugehörigkeit und zum Outen.

Der Artikel löst ein Durcheinander in meinem Kopf aus. Bevor ich ihn weiterhin noch mehrmals lese, veröffentliche ich ihn nun einfach. Zur gegebenen Zeit wird sich das Durcheinander schon klären. Vielleicht ist es einfach eine diffuse Angst in mir, die soziale Zugehörigkeit mit einer weiteren Abnahme der Hörleistung zu verlieren?

4 Kommentare zu „Dazuge-Hören?

  1. Doch, mir ist in den letzten paar Tagen sehr klar geworden, was mit dieser Passage gemeint ist (eben habe ich in meinem Blog ein gescheitertes Mittagessen mit Kollegen geschildert). Mir scheint, dass man – gerade in Situationen, die als ungezwungen gelten – sehr schnell als schwierig wahrgenommen wird, wenn man ständig nachfragt oder sich zu seinen Problemen bekennt. Es liegt vielleicht auch an meiner Gemütsverfassung. Ich bin einfach in diesen Tagen nicht so locker drauf. Aber anyway…

    Manchmal muss ich an meinen Grossvater denken, der im Alter immer schwerhöriger wurde. Er war nie einer gewesen, der viel geredet hat. Am Schluss hatte er ein Hörgerät. An unseren Familientreffen war er aber selbstverständlich dabei – einfach sehr still. Und wir haben ihn alle sehr gern gehabt – er gehörte einfach dazu. Manchmal frage ich mich, ob das nicht besser war als diese heutigen Smalltalk-Situationen, in denen man seine Präsenz eigentlich immer beweisen muss, indem man etwas zum Gespräch beiträgt.

  2. Liebe Frau Frogg,

    ich habe deine Beiträge gelesen und dir in deinem Weblog ein paar Zeilen geschrieben. Vermutlich hast du sie bereits gelesen.
    Hier möchte ich noch schreiben, dass auch mein lieber Vater (seit gestern 74 Jahre alt) sehr schlecht hört. Er verhält sich ähnlich wie dein Großvater und ich mag das. Es steckt so viel Gelassenheit dahinter. Er muss nicht mehr alles verstehen, in dem Lebensabschnitt indem er sich befindet.

    Wir sind beide in einem anderen Lebensabschnitt. Auch ich frage mich, wieviel ich wirklich verstehen muss oder sollte und wieviel ich verstehen möchte. Das was ich will ist schnell beschrieben. Smalltalk-Situationen langweilen mich innerhalb kürzester Zeit. Ich will mein Gegenüber wahrnehmen und nicht die Fassade davor. Ich will mir auch nicht mehr alles anhören. Die Gespräche werden noch direkter und somit auch noch ehrlicher. Allerdings will ich das Hören gerne selbst bestimmen und da ist der Knackpunkt. Ich kann das ja nicht immer. Irgendwie drängt sich mir das Bild einer Wölfin auf, die in einem Käfig gehalten wird, der mal sehr groß und mal sehr klein ist.

    Was ich wirklich hören und verstehen sollte, ist für mich viel schwerer zu beantworten. Ich mag nur mehr wenig beweisen und schon gar nicht, mich um bzw. in berufliche Positionen drängen, in die ich sowieso nicht gehöre, weil die dazugehörigen Verhaltensweisen nicht zu mir passen. Das wären Kompromisse, die sich auf mein Wohlergehen auswirken würden. Davon halte ich nichts. In meiner derzeitigen beruflichen Situation, habe ich es glaube ich relativ „leicht“. Abgesehen davon, dass ich seit geraumer Zeit von zu Hause aus arbeite, wird bei uns nicht gemeinsam in die Kantine gegangen. Daher gibt es weniger Situationen, in denen ich muss.

    Auch wenn er aus dem Zusammenhang gerissen ist, will ich noch einen Satz hinzufügen: Die Schwerhörigkeit macht, aufgrund der Reaktionen von anderen, Beziehungen so schnell klar und das finde ich gut.

    Susanne

    PS: Das Thema verwirrt mich immer noch ein wenig.

  3. Liebe Susanne, Danke für Deine lieben Worte (hier und bei mir). Vielleicht hast Du recht: Vielleicht geht es auch darum, zu lernen, in welche kommunikativen Situationen ich mich sinnvollerweise begeben kann und sollte. Ich bin froh, bei Dir zu lesen, dass das ein Lernprozess ist. Mir liegt im Grunde sehr viel an diesen Treffen in der Cafeteria, da ich ja schon alleine arbeite und wenigstens in der Mittagspause gern ein bisschen plaudern möchte. Aber vielleicht ergibt sich dafür eine Lösung.

    Einstweilen muss ich mal damit zurecht kommen, dass ich heute noch schlechter höre als in den letzten Tagen. Aber jetzt habe ich wenigstens ein paar Tage Ruhe. Darum bin ich froh.

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